8. Oktober 2022, halb fiktiv
Der Fanatiker und der Rationalist
Heute Morgen hatte ich einen Traum. Ich war die große Schwester eines neu aufgenommenen Kindes unserer Familie. Sie sah verletzlich aus, die Herkunft asiatisch, große Augen, hatte wenig gesprochen, fast wie ich. Ich wollte ihr meine ganze Liebe schenken, sich wie angekommen fühlen lassen, schließlich ist sie nun in ihrem neuen Heim, meine neue kleine Schwester.
Als ich aufwachte, musste ich an meine früheren Träume denken. Tagesräume. Ich wünschte, unsichtbar zu sein und das Leid der Welt zu lindern, nicht ohnmächtig zuzuschauen. Vom Ego loslassen und frei vom Ich zu sein—kein ich, sondern nur Das.
“Du bist mein Kompass”, sagte mein Fanatiker. Mein Ich aufgelöst, das ist mein Ziel, und das bewundert er, er ist davon besessen. Er riecht an mir, als wäre ich sein Parfum, und liest mich wie eine Anleitung. Aber wer bin ich? Mein Atem riecht nach schlechtem Kaffee und nicht nach Rosen. (Wenn ich das Licht anmache, dass tue ich es nicht, un Licht zu schenken, sondern einfach nur um besser sehen zu können.) Er hingegen knipst mein Licht an als wäre ich seine Lampe, als würde ich ihm Sehkraft geben können. In Wahrheit brennt das Licht nur für mich, und er ist gar nicht in der Lage, meine Farben zu sehen. Er stellt mich auf ein Podest; alle meine Worte wandelt er in ein Stück Seide, in Blattgold. Er verstärkt mich in Ideen, die ich von mir selbst habe, die nicht existieren, die keine Form angenommen haben, die selbst Hirngespinste sind. Ich fühle mich nicht real. Als würden meine Ideen und Visionen idealisiert und dekoriert werden, während ich sie eigentlich umschmeißen, reformieren und konkretisiert haben möchte. Ich schiebe den Fanatiker von mir. Er bestätigt irreale Hirngespinste, die sich im Innersten meines Wesens abspielen, er selbst ist aber eine weiße Leinwand. Noch. Er guckt sich meine Farben an, meine Techniken und meine Hirngespinste, und will damit seine Leinwand bemalen. Stop. Wie kann er seine Leinwand bemalen wenn er nicht einmal meine Farben sieht? Geh weg von mir! Tritt aus meinem Leben, ich kann das nicht gebrauchen, ich fange an mich aus leeren Gründen zu fanatisieren, nur, weil du es tust; ich würde lieber meine Leinwand zerstören, bevor du meine Farben kopierst. Du Fanatiker.
Und du, du Rationalist. Du hast mir meine Ideen genommen mit deiner Bodenständigkeit. Du zeigst mir die Realität, ich nehme teil, ich habe Spaß, ich werde in die Gesellschaft integriert. Aber ich will träumen. Du gabst mir den Mut mich in dieser Welt als reales Wesen darzustellen, so, wie ich es will. Eine Position einzunehmen, das Ich zu sein, kein körperloses Wesen. Gleichzeitig hast du mir meine Sanftheit und Verträumtheit geraubt. “Leid wegnehmen, in der Welt aufgehen, Liebe, Licht und Wärme schenken” werden nun “schaffen, kreieren, das Ich, das Ego in dieser irdischen Welt auf einen Podest stellen, immer höher die Treppe hinaufklettern”. Der Rationalist hat mir meine Magie genommen und sie in Stein verwandelt, in roten Staub.
Zwischen Fanatismus und Rationalismus befinde ich mich nun. Ich erinnere mich an meine kleine Schwester, der ich im Traum begegnet bin. Sie sagte mir, zwischen Fanatismus und Rationalismus, wähle nichts von beidem. Bleib' in deinem Traum, bleib bei mir. Und ich blieb bei ihr. Und ich blieb bei mir. Wieder unsichtbar sein und vom Ego loslassen,