Die namenlose Stadt 


Die Stadt war namenlos und die Anwohner gesichtslos.


Alles, was sie wussten, war, dass die Stadt umgeben von einer Schlucht war — eine Schlucht so tief, dass sich keiner an den Rand traute. 

Doch eines war klar: Eines Tages mussten einige wenige hinaus. Was für Namen und Gesichter es jedoch über den Rand hinaus gab, das wusste keiner so recht.


In dieser namenlosen und gesichterlosen Stadt gab es sieben Arten von Menschen.


Bewohner mit Augen waren oft bunt angekleidet. Wenn sie lachten, formten sich süße Lachfalten auf ihrer Stirn. Sie waren die dominantesten in der Stadt, jedoch recht verurteilend, und alles, was nicht schön aussah, musste aus ihrem Blickfeld verschwinden. 

Bewohner mit Ohren hingegen waren ein wenig sensibler. Oft mieden sie die laute Innenstadt und unterhielten sich in ihren kleinen Gruppen oder weilten in der Natur.

Diejenigen mit Nasen fand man überall und nirgendwo, doch meistens natürlich dort, wo es gut roch. Sprich, in der Küche, in der Natur umgeben von Blumen, in der Parfümerie. Keiner hatte so Recht eine Meinung über sie.

Diejenigen mit Zunge, davon gab es natürlich weniger, empfanden die meistens als etwas seltsam, doch das Essen, das sie zubereiteten, wurde von den Nasen verehrt und von den Augen geliebäugelt. 

Bewohner, die tasten konnten, waren echte Sentimentalisten, und wussten meist nicht so recht wohin mit ihren Händen. 

Dann gab es die, die alle fünf Sinne besaßen. Sie waren die Kreierenden und wussten, was über den Stadtrand hinaus geschehen würde. 

Und es gab die Sinneslosen, die weder Augen, Ohren, Nase noch Zunge oder Tastsinn besaßen.


In dieser namenlosen und gesichterlosen Stadt gab es einige Regeln, die natürlich die Fünfsinnigen aufstellten. Sie waren schließlich kreierende Kreaturen, und hatten endlose Kreativität. Besonders verehrt wurden sie für das Gerät und das einhergehende System, das die Kommunikation in der Stadt ermöglichte. Mithilfe des Geräts konnten die Anwohner problemlos miteinander leben, ohne, dass sich die sieben Clans voneinander entfremdeten. Keiner wusste so recht, seit wann es dieses Gerät gab, doch in den Geschichtsbüchern stand, dass die prähistorischen Vorfahren bereits daran forschten.


Die meisten hatten nie wirklich das Verlangen, über den Stadtrand hinauszugehen, oder gar sich ihm zu nähern. Es kursierten Mythen, Gerüchte und anderweitige Geschichten über die Bezirke am Stadtrand und über das, was jenseits dessen lag. Einen triftigen Grund gab es jedoch, weshalb die meisten Anwohner das Draußen mieden — die meisten Sinneslosen lebten dort. Es war nicht so, als wären sie mysteriöse oder gar schaurige Anwohner. Ganz im Gegenteil, wenn man sie sah, grüßten sie einen höflich. Doch aus irgendeinem Grund wurden sie gemieden. Sie stießen keinen Geruch aus, sahen aus wie Neutralität in Person, und wenn sie sich bewegten, hörte man sie nicht. Es war so, als würden sie nicht existieren. Doch genau das war es, was die Anwohner schaudern ließ. Sie krochen aus jeder Ecke unbemerkt hervor und verschwanden hinter den Stadtmauern wie Nebel in den höchsten Bergen.


Als Aria mit den Augen 23 Jahre alt wurde, schlug sie um Punkt 5 Uhr morgens ihre wunderschön, betörenden blau-grauen Augen auf, die in den Farben den Himmels glänzten, die selbst um diese frühe Uhrzeit Farben spiegelten, als würden sie neue Blautöne erfinden. Die Decke anstarrend wusste sie, dass es heute so weit war. Alle, die im selben Jahr geboren wurden wie sie, wurden 23 heute. Der Himmel kreischte in den unterschiedlichsten Grautönen, und ihre melancholisch dreinblickenden Augen schweiften durch ihr Zimmer, das nur aus Glas und Fenstern bestand. Sie schlich hinaus und lief ohne zu zögern an den gläsernen Hochhäusern vorbei, die doch einst ihre Heimat darstellten. Einige Anwohner mit all möglichen Farben trieben sich noch herum, durch die Straßen schlendernd, als sei der Himmel an diesem Morgen nicht grau. Inmitten all des Graus schimmerten die gläsernen Mosaikteile der Gebäude mit der Morgensonne, doch ihr langsamer und gleichzeitig entschlossener Schritt führte sie ohne ein einziges Blinzeln zu den Holz- und Steinhütten. Die Decken der Gebäude waren tiefer gebaut, das Material farblos, doch Aria sah die Gerüche und Geschmäcker im Wind tanzen. Nikita mit der Nase hockte mit einem tiefen Buckel über einem tiefgrünen Topf, der für ihn nach winterlichen Tannenbäumen roch und für Aria wie Nadelwald aussah. “Bereit?”, blinzelte Aria, und Nikita drehte seinen Nasenrücken leicht in ihre Richtung, nahm ein Fläschchen aus seiner Hosentasche und sprenkelte ein Tropfen auf sie. Sie schlichen langsamen Schrittes an den Hütten vorbei, die überfüllt waren mit Phiolen, Ampullen, Flakonen, Elixier- und Tinkturflaschen, die mit ihren Gerüchen den Zeitgeist versuchten einzufangen. Ganz unbemerkt schlich sich Zeke mit der Zunge, verborgen hinter Küchenutensilien aus einem der Steinhütten hinzu, und wartete nur darauf, die neu zubereiteten Elixiere von Nikita zu erschmecken.

Die Hütten nahmen ab, und die Landschaften nahmen zu, als sie sich ihrem Ziel näherten. Die geschwungenen Birken am Wegrand waren so weiß wie die Sklera von Arias Augen, die Bäche schmeckten wie Engelstränen, und die Berge rochen wie unberührter Neuanfang. Ja, sie alle wussten, warum Odin mit den Ohren sich gerne in der Natur aufhielt. Nach einem Hügel sahen sie ihn wehmütig auf einem niedrigen Stein hocken, vermutlich den zwitschernden Vögeln und den laufenden Bächen zuhörend. Doch er war nicht allein, Tony mit dem Tastsinn war bereits an seiner Seite. Sobald sie ihre drei Freunde sah, schoss in rhythmischen Bewegungen auf sie zu, in ihrer Tasche eine Auswahl an Objekten unterschiedlichster Strukturen, Druckmuster und Oberflächen in verschiedenen Temperaturen, Größen und Rhythmen. 


Auf dem Weg zum Rand kommunizierte keiner so recht. Die Landschaft wurde kahler, die Sonne jedoch klarer. Nach einer unbestimmten Zeitspanne kamen sie an. Sie waren am Rand. 


Es befanden sich auch hier einige Siedlungen. Vereinzelte Holz- und Steinhütten, aber auch kleinere Glasgebäude waren zu finden, doch meist waren es Sinneslose, die sich hier herumtrieben. Odin nahm eine Kette an Muscheln, die um seinen Hals hing, und schwang sie in einigen geübten Handbewegungen. “Ja, ich glaube wir sind da”, signalisierte Zeke mit einer leicht salzigen Substanz, dessen Konsistenz lauwarm und cremig schmeckte. 


Die Regeln am Rand waren folgende: Es folgte die Tradition, dass Anwohner im 23. Lebensjahr, aber auch nur im 23. Lebensjahr, Kreierende werden konnten, und somit alle fünf Sinne erlangen durften. Die Bedingung waren, dass sich eine Gruppe von fünf Anwohner zusammenfinden mussten. Nicht mehr, nicht weniger. Diese Gruppe musste sich am 23. Tag des ersten Monats des Kalenders, dem Geburtstag, zusammenfinden, und eine Brücke über die Schlucht am Stadtrand kreieren. Sie hatten 230 Stunden Zeit. In einem Kreis stehend, fingen sie an aus allen möglichen Taschen und Objekten Sachen zu kreieren, die den Erfindungen ähnelten, die einst ihre kreierenden Vorfahren erfanden. Keiner redete. Die zweite Prämisse war, dass, sobald man anfing zu bauen, gab es kein Zurück mehr, denn die Schlucht symbolisierte den ewigen Tod; sobald die Brücke bröckelte, gab es also keine Wiederkehr mehr. So bauten und bauten sie in unerschöpflicher Energie, bis sich eine unscheinbare Existenz ihnen annäherte. Ein Sinnesloser. Es vergingen Stunden, bis jemand von den fünf Anwohnern die kleine Gestalt bemerkte, die sich nah am Rande befand. Zwar wussten sie nicht wie es kommunizierte, doch alles wussten, was es wollte: Die Brücke mitbauen. Und somit einer der fünf Mitglieder ersetzen. Sie zogen sich leisen Fußes einige Meter zurück und verhandelten, denn es spielte nicht nur Stolz und Heroismus beim Erreichen des anderen Endes eine Rolle, sondern auch Furcht, Angst und Verzweiflung. Würde einer der fünf im letzten Moment doch in die Sicherheit der Stadt fliehen wollen? Oder ist der Drang nach Kreation, das Verlangen nach Name und Gesicht in der namenlosen und gesichterlosen Stadt größer? Nach einem Chaos an Oberflächen, Farben, Gerüchen, Geschmäckern und Geräuschen wurde es plötzlich neutral, und alle wendeten sich mit ihrem Körper langsam gen Sinneslosen. Ohne ein weitere Sekunde vergehen zu lassen, liefen sie alle umgehend im monotonen, übereinstimmenden Schritt auf ihn zu und schubsten es über den Rand. Es fiel und fiel, als würde es eine Ewigkeit fallen. Sie sahen nichts und hörten keinen Aufprall, und die sinneslose Gestalt verschwand im Jenseits. “Nun, so war es schon immer und wird auch immer so bleiben”, sagten sie im deckungsgleichen Ton, jeder in seiner eigenen Sprache, und in einer unbekümmerten Wonne arbeiteten sie weiter. 


Eine unbestimmte Zeit später verging, die Fünf arbeiteten weiter, die Sinneslosen am Stadtrand schlichen in ihren zauberhaften Labyrinthen umher wie Geister in ihren Luftschlössern. Keiner der Fünf kehrte jemals in die namenlose und gesichterlose Stadt zurück, und ihre Brücke bröckelte kurz vor dem Erreichen des anderen Ende des Randes. 

Ein kleines, unscheinbares sinnesloses Wesen hielt sich am Tag des Zerbröckelnd ihrer recht beeindruckenden Brücke vor Ort auf, und beobachtete das Ende der fünf Anwohner. Sie sprach in ihrer Sprache, die nur Ihresgleichen verstanden: “Wüssten sie nur, dass es mehr gibt, als die Sinne und den Körper — dann hätten sie vielleicht das andere Ende erreicht.”